Die Forschungsgruppe unter der Leitung des Neurologen Dr. med. Florian Rakers hat nun die Daten von 7.947 gesetzlich Versicherten ausgewertet. Der Fokus lag auf der Erfassung der Anzahl und Art der stationären und ambulanten Behandlungen. Daten aus Rehakliniken wurden nicht berücksichtigt. Es wurde untersucht, wie viele PatientInnen eine Versorgung entsprechend der Leitlinie zum spastischen Syndrom erhalten haben.
Leitlinienempfehlungen
Aus allen drei deutschen Leitlinien geht hervor, dass die Behandlung der neurologischen PatientInnen durch ein multidisziplinäres Team gestaltet werden soll. Das Ziel der Therapie besteht darin, die passive und aktive motorische Funktion zu verbessern. Der zentrale Ansatz der Behandlung sollte regelmäßige aktive Physiotherapie und Ergotherapie umfassen, ohne dass die Sorge besteht, dadurch die Spastik zu verstärken. Es konnte sogar eine langfristige Senkung des Tonus durch die forcierte aktive Therapie verzeichnet werden. Wenn Betroffene durch Eigenaktivität die notwendige Mobilisation der Gliedmaßen nicht erreichen können, sollte regelmäßig eine schmerzfreie Dehnlagerung erfolgen. Passive Dehnungen über kurze Zeiträume (beispielsweise in der Therapieeinheit) sind hingegen nicht empfehlenswert.
Im Zusammenhang mit der schlaganfallbedingten Spastizität (post stroke spasticity, PSS) scheinen orale Medikamente keine Vorteile in der Behandlung zu bieten. Sie können jedoch durch ihre Nebenwirkungen die aktive Therapie massiv einschränken. Demgegenüber wird eine lokale Injektion von Botulinumtoxin (BOTOX) empfohlen, insbesondere bei ausgeprägten, anhaltenden und alltagsrelevanten Spastiken. Bei langfristiger Anwendung ist zu beachten, dass die Wirkung durch die Bildung von Antikörpern abgeschwächt werden kann.
Was bekommen die PatientInnen in Deutschland?
Gerade einmal ein Viertel der PatientInnen bekam regelmäßige PSS-spezifische physiotherapeutische Behandlungen. Genauso viele erhielten keine Physiotherapie. Allgemeine Physiotherapie wurde 44 Prozent regelmäßig oder 76 Prozent der Patienten zumindest einmal verordnet. Bei der Ergotherapie fiel das Ergebnis noch ernüchternder aus. Weniger als die Hälfte der Betroffenen erhielt eine einzige Verordnung für Ergo. Nur ein Viertel wurde regelmäßig und 16,4 Prozent der Betroffenen mit PSS-spezifischer Ergotherapie behandelt.
Die Daten zur medikamentösen Versorgung wiesen noch stärkere Abweichungen von den Leitlinienempfehlungen auf. Während etwa zehn Prozent der Patientinnen und Patienten orale Antispastika einnahmen (was nicht empfohlen wird), wurde nur ein Prozent mit mindestens einer Botoxinjektion behandelt.
Limitationen
Die anonymisierten Patientendaten beinhalten ausschließlich die entsprechenden ICD-10-Codes sowie die Anzahl der Heilmittelverordnungen und deren Behandlungseinheiten. Patientenspezifische Befunddaten waren nicht enthalten. Daher bleibt unklar, welcher individuelle Therapiebedarf bei den knapp 8.000 Betroffenen vorlag. Ein Rückschluss von den verfügbaren Daten auf eine tatsächliche Leitlinienkonformität ist daher eine limitierte Schätzung.
Wie die Physio- und Ergotherapie gestaltet waren, wurde ebenfalls nicht untersucht. Somit ist unklar, ob die Inhalte der verordneten Therapie auch der Leitlinie entsprachen. Leitet man die durchschnittliche Leitlinienadhärenz von deutschen PhysiotherapeutInnen aus anderen Krankheitsbildern (Arthrose, Rücken ) ab, ist eher nicht davon auszugehen.
Interpretation der WissenschaftlerInnen
Die AutorInnen geben eine Reihe möglicher Gründe für die Nichteinhaltung der Leitlinienempfehlungen an. Allem voran steht die Budgetierung von Heilmittelleistungen. Dabei begehen sie allerdings den Fehler, der möglicherweise auch den verordnenden ÄrztInnen unterläuft. Denn alle eingeschlossenen ICD-10-Codes sind Bestandteil der langfristigen Heilmittel- und besonderen Verordnungsbedarfe und fallen somit nicht ins Budget.
Unzureichende Vergütung der Botox-Therapie, mangelnde Kenntnis der Leitlinien oder persönliche Wünsche der PatientInnen werden als weitere mögliche Gründe erwähnt. Die bereits erwähnte Limitation des Umfangs der Datensätze macht die Interpretation entsprechend schwierig.
Als abschließende Empfehlungen schlagen die ForscherInnen eine erneute Evaluation der aktuell ausschließlich mit oralen Antispastika behandelten Personen vor. Denn bei diesen kann „von einer schmerzhaften und/oder behindernden Spastik ausgegangen werden“ und daher eine Botox-Therapie indiziert sein.
Fazit
Die Wahrscheinlichkeit einer Fehlversorgung von PatientInnen mit PSS erscheint anhand dieser Studie sehr hoch. Aufgrund des Designs bleibt dies allerdings eine vorläufige Schätzung. Dennoch kann sie als Argumentation für weitere Forschung dienen. Folgende Arbeiten, die die Leitlinienadhärenz der ÄrztInnen und TherapeutInnen anhand spezifischer Befunddaten untersuchen, könnten diese Wissenslücken schließen.
Vielen Dank Herr Römhild für diesen Artikel!
Ob meine Überschrift dazu führen wird, dass jemand auf ihren Artikel reagiert - mal sehen.
Ich finde es wirklich sehr wertvoll, dass man versucht das studienbasiertes Wissen zu Leitlinien zusammenzufassen. Nur leider interessiert das anscheinend ja kaum jemanden. Leitlinengerechte Therapie taucht auch im Unterricht der Physiotherapieschulen wenig auf. Die Physios in der Praxis halten sich wenig bis nicht daran. Und auch die Ärzte sind meist nicht besser - Leitlinie hin oder her, der Patient bekommt weiterhin NICHT leitliniengerecht seine Hyaloronspritzen und die HTEP empfohlen. Konservativer Therapieversuch findet nicht statt und Keine_n interessiert es.
Evidenzbasierte Therapie - wo bist Du?
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Leitlinien interessieren uns einen Sch....!
Vielen Dank Herr Römhild für diesen Artikel!
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Zacharopoulos Michael schrieb:
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Die Forschungsgruppe unter der Leitung des Neurologen Dr. med. Florian Rakers hat nun die Daten von 7.947 gesetzlich Versicherten ausgewertet. Der Fokus lag auf der Erfassung der Anzahl und Art der stationären und ambulanten Behandlungen. Daten aus Rehakliniken wurden nicht berücksichtigt. Es wurde untersucht, wie viele PatientInnen eine Versorgung entsprechend der Leitlinie zum spastischen Syndrom erhalten haben.
Leitlinienempfehlungen
Aus allen drei deutschen Leitlinien geht hervor, dass die Behandlung der neurologischen PatientInnen durch ein multidisziplinäres Team gestaltet werden soll. Das Ziel der Therapie besteht darin, die passive und aktive motorische Funktion zu verbessern. Der zentrale Ansatz der Behandlung sollte regelmäßige aktive Physiotherapie und Ergotherapie umfassen, ohne dass die Sorge besteht, dadurch die Spastik zu verstärken. Es konnte sogar eine langfristige Senkung des Tonus durch die forcierte aktive Therapie verzeichnet werden. Wenn Betroffene durch Eigenaktivität die notwendige Mobilisation der Gliedmaßen nicht erreichen können, sollte regelmäßig eine schmerzfreie Dehnlagerung erfolgen. Passive Dehnungen über kurze Zeiträume (beispielsweise in der Therapieeinheit) sind hingegen nicht empfehlenswert.
Im Zusammenhang mit der schlaganfallbedingten Spastizität (post stroke spasticity, PSS) scheinen orale Medikamente keine Vorteile in der Behandlung zu bieten. Sie können jedoch durch ihre Nebenwirkungen die aktive Therapie massiv einschränken. Demgegenüber wird eine lokale Injektion von Botulinumtoxin (BOTOX) empfohlen, insbesondere bei ausgeprägten, anhaltenden und alltagsrelevanten Spastiken. Bei langfristiger Anwendung ist zu beachten, dass die Wirkung durch die Bildung von Antikörpern abgeschwächt werden kann.
Was bekommen die PatientInnen in Deutschland?
Gerade einmal ein Viertel der PatientInnen bekam regelmäßige PSS-spezifische physiotherapeutische Behandlungen. Genauso viele erhielten keine Physiotherapie. Allgemeine Physiotherapie wurde 44 Prozent regelmäßig oder 76 Prozent der Patienten zumindest einmal verordnet. Bei der Ergotherapie fiel das Ergebnis noch ernüchternder aus. Weniger als die Hälfte der Betroffenen erhielt eine einzige Verordnung für Ergo. Nur ein Viertel wurde regelmäßig und 16,4 Prozent der Betroffenen mit PSS-spezifischer Ergotherapie behandelt.
Die Daten zur medikamentösen Versorgung wiesen noch stärkere Abweichungen von den Leitlinienempfehlungen auf. Während etwa zehn Prozent der Patientinnen und Patienten orale Antispastika einnahmen (was nicht empfohlen wird), wurde nur ein Prozent mit mindestens einer Botoxinjektion behandelt.
Limitationen
Die anonymisierten Patientendaten beinhalten ausschließlich die entsprechenden ICD-10-Codes sowie die Anzahl der Heilmittelverordnungen und deren Behandlungseinheiten. Patientenspezifische Befunddaten waren nicht enthalten. Daher bleibt unklar, welcher individuelle Therapiebedarf bei den knapp 8.000 Betroffenen vorlag. Ein Rückschluss von den verfügbaren Daten auf eine tatsächliche Leitlinienkonformität ist daher eine limitierte Schätzung.
Wie die Physio- und Ergotherapie gestaltet waren, wurde ebenfalls nicht untersucht. Somit ist unklar, ob die Inhalte der verordneten Therapie auch der Leitlinie entsprachen. Leitet man die durchschnittliche Leitlinienadhärenz von deutschen PhysiotherapeutInnen aus anderen Krankheitsbildern (Arthrose, Rücken ) ab, ist eher nicht davon auszugehen.
Interpretation der WissenschaftlerInnen
Die AutorInnen geben eine Reihe möglicher Gründe für die Nichteinhaltung der Leitlinienempfehlungen an. Allem voran steht die Budgetierung von Heilmittelleistungen. Dabei begehen sie allerdings den Fehler, der möglicherweise auch den verordnenden ÄrztInnen unterläuft. Denn alle eingeschlossenen ICD-10-Codes sind Bestandteil der langfristigen Heilmittel- und besonderen Verordnungsbedarfe und fallen somit nicht ins Budget.
Unzureichende Vergütung der Botox-Therapie, mangelnde Kenntnis der Leitlinien oder persönliche Wünsche der PatientInnen werden als weitere mögliche Gründe erwähnt. Die bereits erwähnte Limitation des Umfangs der Datensätze macht die Interpretation entsprechend schwierig.
Als abschließende Empfehlungen schlagen die ForscherInnen eine erneute Evaluation der aktuell ausschließlich mit oralen Antispastika behandelten Personen vor. Denn bei diesen kann „von einer schmerzhaften und/oder behindernden Spastik ausgegangen werden“ und daher eine Botox-Therapie indiziert sein.
Fazit
Die Wahrscheinlichkeit einer Fehlversorgung von PatientInnen mit PSS erscheint anhand dieser Studie sehr hoch. Aufgrund des Designs bleibt dies allerdings eine vorläufige Schätzung. Dennoch kann sie als Argumentation für weitere Forschung dienen. Folgende Arbeiten, die die Leitlinienadhärenz der ÄrztInnen und TherapeutInnen anhand spezifischer Befunddaten untersuchen, könnten diese Wissenslücken schließen.
Die Arbeit im Original finden Sie hier.
Martin Römhild / physio.de
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Vielen Dank Herr Römhild für diesen Artikel!
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Ich finde es wirklich sehr wertvoll, dass man versucht das studienbasiertes Wissen zu Leitlinien zusammenzufassen. Nur leider interessiert das anscheinend ja kaum jemanden. Leitlinengerechte Therapie taucht auch im Unterricht der Physiotherapieschulen wenig auf. Die Physios in der Praxis halten sich wenig bis nicht daran. Und auch die Ärzte sind meist nicht besser - Leitlinie hin oder her, der Patient bekommt weiterhin NICHT leitliniengerecht seine Hyaloronspritzen und die HTEP empfohlen. Konservativer Therapieversuch findet nicht statt und Keine_n interessiert es.
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Zacharopoulos Michael schrieb:
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