Anlage zu:
Empfehlungen zur Neurologischen Rehabilitation von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen in den Phasen B und C

 

Anlage zum Anwendungshinweis zur leistungsrechtlichen Zuordnung in der Phase C

Das neurologische Reha-Assessment und Hinweise zur Prognoseeinschätzung in der Phase C


Inhalt

1. Neurologisches Reha-Assessment 

1.1 Ziele und Aufgaben 

1.2 Durchführung 

1.3 Struktur und Inhalte des neurologischen Reha-Assessments 

2. Untersuchungsverfahren 

3. Aspekte der prognostischen Beurteilung 

3.1 Einschätzung der Prognose unter kurativneurologischer Beurteilung des Krankheitsverlaufs 

3.2 Prognosefaktoren und Outcome-Parameter 

3.3 Hinweise zur Prognoseeinschätzung 

4. Neurologische Reha-Assessment-Checklisten A-C 

5.  Aufbau eines neurologischen Reha-Assessment-Befundberichts 


1. Neurologisches Reha-Assessment 

1.1 Ziele und Aufgaben 

Das neurologische Reha-Assessment, das zu Beginn jeder Rehabilitationsmaßnahme durchzuführen ist, erfüllt verschiedene Aufgaben. Es dient den
Rehabilitationseinrichtungen als Grundlage der detaillierten inhaltlichen Planung und Durchführung der jeweiligen Rehabilitationsmaßnahme (Klinik-Fallmanagement), ferner u.a. den

Leistungsträgern der Kranken- und Rentenversicherung und ihren ärztlichen Diensten zur Klärung der Zuständigkeit.

Das neurologische Reha-Assessment zielt darauf ab, die körperlichen, mental/kognitiven und psychischen Schädigungen (Funktionsstörungen) und die daraus resultierenden Fähigkeitsstörungen eines Patienten nach oder bei einer in Frage stehenden Affektion des Nervensystems und die Krankheitsverarbeitung1) des Patienten zu erfassen (Befund-/Datenerhebung), die einzelnen Störungen zu interpretieren (Konsistenz der Befunde, Beziehung zur zugrundeliegenden Krankheitsursache, Lokalisation etc.) und im anamnestisch-biographischen, sozial- und kurativ-medizinischen Kontext zusammenfassend zu bewerten (psychische und soziale Auswirkung).

Dabei sind die Funktions-2) und Fähigkeitsstörungen und die sozialen Auswirkungen insbesondere im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit im Alltag und im Erwerbsleben zu berücksichtigen. In der zusammenfassenden Beurteilung ist auf dem Hintergrund der rehabilitationsneurologischen3) Beurteilung, die die sozialmedizinische und akutneurologische Beurteilung einbezieht, ein Rehabilitations-plan mit Angabe der kurz-, mittel- und langfristigen Rehabilitationsziele aufzustellen, eine Einschätzung der Rehabilitationsprognose abzugeben und der Rehabilitationsverlauf zu dokumentieren.

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1) Unter Krankheitsverarbeitung ist der Umgang des Patienten mit der Erkrankung und den Krankheitsfolgen zu verstehen (Krankheitseinsicht; positive oder negative Verarbeitung; z.B. reaktive Depression). Prinzipiell ist auch die Fähigkeit zur Krankheitsverarbeitung zu beurteilen, da sie bei neurologischen Erkrankungen als solche beeinträchtigt sein kann.

2) Die Abgrenzung von Funktionsstörungen (impairments) und Fähigkeitsstörungen (disabilities) ist unscharf. Funktionen sind Leistungen eines Organs (z.B. ist Sprache eine Leistung des Gehirns), Fähigkeiten sind deren Anwendung/Umsetzung in einem alltagsrelevanten Kontext (z.B. sprachliche Kommunikation im Alltag). Verschiedene Funktionen bündeln sich zu einer Fähigkeit. Z.B. sind für die sprachliche Kommunikation verschiedene Funktionen wie Sprache, Sprechen, Hören, Sehen, Erkennen (Gesichtererkennen, Erkennen von kommunikativen Signalen („cues“), Antrieb, Verhaltenskontrolle, etc. zu integrieren.

3) Die Integration akutneurologischer, restitutiver und sozialmedizinischer Aspekte macht den Kern der neurologischen Rehabilitationsmedizin (Rehabilitationsneurologie) aus.

1.2 Durchführung

Das neurologische Reha-Assessment obliegt einem in der neurologischen Rehabilitation mindestens zwei Jahre erfahrenen Facharzt für Neurologie und möglichst Psychiatrie mit Zusatzbezeichnung Sozialmedizin und/oder Rehabilitationswesen. Es wird unter stationären oder ambulant/teilstationären Bedingungen in einer anerkannten neurologischen Rehabilitationseinrichtung durchgeführt. Es kann – insbesondere bei der Erstuntersuchung – einen längeren Zeitraum (bis zu 10 Tagen) in Anspruch nehmen. Das neurologische Reha-Assessment wird innerhalb der ersten Behandlungstage – und falls erforderlich im Verlauf – sowie am Ende einer Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt. Häufig sind zur Leistungsbeurteilung Verhaltensbeobachtungen unter Alltagsbedingungen und unter diagnostisch-therapeutischer Intervention notwendig. Gegebenenfalls ist für eine Einschätzung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben im Verlauf der Rehabilitationsmaßnahme eine Belastungserprobung erforderlich.

1.3 Struktur und Inhalte des neurologischen Reha-Assessments

Das neurologische Reha-Assessment ist ein strukturiertes Verfahren unter Einschluß der anamnestisch/biographischen Exploration, verschiedener Untersuchungen (klinisch, explorativ, observativ, psychometrisch, apparativ), rehabilitativer Intervention1) und einer zusammenfassenden interpretativen Bewertung und Beurteilung aller erhobenen Informationen.

Tabelle 1

Ebenen des neurologischen Reha-Assessments
– Anamnese und Exploration
– Untersuchung
– Bewertung/Beurteilung
– Schlußfolgerungen/Reha-Plan

Es wird in verschiedenen Komplexitätsgraden durchgeführt: orientierende klinische Untersuchung, erweiterte klinische Untersuchung, psycho- und physiometrische Untersuchung2), apparative Untersuchung. In der Regel erfolgt beim Erstkontakt im Kontext des anamnestischen Gesprächs eine erste klinische Untersuchung, die alle Funktionsbereiche (körperlich, mental/ kognitiv, psychisch) umfaßt, Funktionsstörungen exploriert und in ihrer Bedeutung für den Patienten im Sinne von alltags- und/oder erwerbsrelevanten Fähigkeitsstörungen abschätzt und die Wissensressourcen (Alltagswissen, schulisches, berufliches Wissen) mit einbezieht. Neben den Störungen sind insbesondere die intakten Funktionen und erhaltenen Fähigkeiten herauszustellen. In Abhängigkeit von den jeweiligen Ziel- und Aufgabenstellungen des Assessments (Therapieplanung, Kontrolluntersuchung, Rehabedarffeststellung, Prognoseeinschätzung, Verlängerungsantrag, Entlassungsbericht) kommen dann weitere psycho- und physiometrische oder apparative Verfahren zur Anwendung (adaptatives, flexibles, zielgeleitetes und patientenorientiertes Vorgehen).

Das neurologische Reha-Assessment enthält je nach Objektbereich der Untersuchung (z.B. Motorik, Sprache, Gedächtnis, Affekt, Persönlichkeit) nicht-stan-dardisierte und standardisierte Verfahren, die qualitativ beschreibende, quantitativ objektivierende sowie verhaltensbeobachtende intersubjektiv definierte

(z.B. in Form von Beobachtungsskalen3)) Anteile einschließen.

Die Struktur und die Elemente eines neurologischen Reha-Assessments und eines Reha-Assessment-Befundberichts sind in den Tabellen im Anhang zusammengefaßt. Diese sind jedoch immer den Gegebenheiten des jeweiligen Patienten anzupassen.

Das Leistungsprofil (Funktions- und Fähigkeitsstörungen) muß ganz individuell herausgearbeitet werden. In der Neurologischen Rehabilitation ist dies wegen der Komplexität und der individual-biographischen Ausprägung der psychischen und mental/kognitiven Funktionen von besonderer Bedeutung. Aufzuführen und zu beschreiben sind alle für die Bewältigung des Alltags- und Erwerbslebens wichtigen erhaltenen und gestörten somatischen, mentalen und psychischen Fähigkeiten und Leistungen. Bei der Bewertung sollte der Arzt sich dabei jedoch auf die für die Beurteilung relevanten Einschränkungen konzentrieren und Leistungseinbußen, die von untergeordneter Bedeutung sind, nicht heranziehen. Wegen der Bedeutung des sozialen und beruflichen Umfelds für das Leistungsvermögen sind Informationen zur sozialen und beruflichen Situation des Patienten besonders wichtig (familiäre Situation, Belastungen im sozialen Umfeld, Wohnsituation, Pflege von Angehörigen, soziale Unterstützung, finanzielle Situation, Freizeitverhalten, Berufsausbildung – mit oder ohne Abschluß, Arbeitssituation, derzeitige Tätigkeit mit aktueller Arbeitsplatzbeschreibung, Arbeitsplatzprobleme unter Berücksichtigung der Selbstauskunft am Arbeitsplatz, Erreichen der Arbeitsstelle, Arbeitsunfähigkeitszeiten und deren Ursache während der vergangenen 12 Monate, gegenwärtige Arbeitslosigkeit).

Detailliert soll die Beschreibung des Anforderungsprofiles der zuletzt ausgeübten Tätigkeit sein, da sich hieraus in Zusammenschau mit den verbleibenden Fähigkeiten zum einen therapeutische Schwerpunkte in der Rehabilitation ergeben können, sich zum anderen Überlegungen zu evtl. erforderlichen berufsfördernden Maßnahmen, z. B. Arbeitsplatzumsetzung oder Umschulung, ableiten lassen (medizinisch/berufliche Rehabilitation Phase II).

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1) Diagnostisch wichtig ist es, zu eruieren, ob der Patient auf eine rehabilitative Intervention anspricht

2) Bei den standardisierten Verfahren ist sicherzustellen, daß die Verfahren zu wiederholten Messungen geeignet sind

3) Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen (Pflegekräfte, Therapeuten, Ärzte, Angehörige) können das Assessment ergänzen.

2. Untersuchungsverfahren

Die im Rahmen des neurologischen Reha-Assessments angewandten Untersuchungen umfassen qualitative und quantitative Verfahren. Sie sind z. T. standardisiert, z. T. handelt es sich um strukturierte Verfahren (z. B. neurologische Untersuchung), z. T. werden experimentelle Verfahren aus wissenschaftlichen Untersuchungen angewandt.

Wenn möglich sollten standardisierte, quantifizierende Verfahren angewandt werden, gleichwohl ist bei der Interpretation der Daten zu beachten, daß die standardisierten Testverfahren häufig an gesunden Probanden standardisiert wurden und die Standarduntersuchungsbedingungen bei der Untersuchung von Patienten oft nicht gegeben sind. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die psychometrischen Untersuchungsergebnisse auf dem Hintergrund der klinischen Erfahrung immer auf ihre klinische Plausibilität hin überprüft werden sollten, selbst wenn die Verfahren an Patienten standardisiert wurden1). Beobachtungsskalen, wie z. B. FIM oder Barthelindex, sind zwar in der Lage bestimmte Fähigkeitsstörungen zu erfassen, ersetzen aber keine für die Therapie und Rehabilitationsplanung erforderliche funktionale Analyse.

Bei standardisierten Verfahren ist sicherzustellen, daß die Verfahren zu wiederholten Messungen geeignet sind. Andernfalls sind Verbesserungen nicht von Lern-/Gewöhnungseffekten hinsichtlich des Verfahrens abzugrenzen.

In der Praxis ist das Vorgehen bei der Untersuchung am jeweiligen Patienten orientiert und beginnt mit einer orientierenden klinischen Untersuchung, die erste Hinweise und Hypothesen hinsichtlich der Störungsbereiche gibt. Die einzelnen Störungsbereiche werden dann in einer erweiterten klinischen Untersuchung detailliert und ggf. psycho- bzw. physiometrisch quantifiziert. Unter intrinsisch-re-habilitationsmedizinischen Gesichtspunkten kommt der qualitativen Analyse der Funktionsprozesse, der Art und Weise der Ausführung einzelner Leistungen durch den Patienten und den Lösungsstrategien des Patienten die größte Bedeutung zu, insbesondere im Hinblick auf die rationale Detailplanung der funktionstherapeutischen Maßnahmen.

In jedem Fall sind die Ergebnisse der quantitativen Untersuchungen und die der qualitativen klinischen Untersuchungen zu integrieren: das Ausmaß ihrer Übereinstimmung sollte festgestellt und diskrepante Ergebnisse im besonderen diskutiert werden.

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1) Auch die an Patienten standardisierten Verfahren wurden mit dem klinischen Urteil korreliert. 
So wurde z.B. der Aachener Aphasietest unter Einbeziehung der klinischen Beurteilung der Patienten durch die Untersucher standardisiert.

Tabelle 2

Adaptive Untersuchungsstrategie beim neurologischen Reha-Assessment

- Orientierende klinische Untersuchung (qualitativ)
- Erweiterte klinische Untersuchung (qualitativ)
- Apparative Untersuchung (qualitativ/quantitativ: z.B. Elektroenzephalographie, Kernspintomographie)
- Psycho- und physiometrische Untersuchung (quantitativ)

 

3. Aspekte der prognostischen Beurteilung

3.1 Einschätzung der Prognose unter kurativneurologischer Beurteilung des Krankheitsverlaufs

Die Notwendigkeit, die Prognose eines Patienten hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit im Alltagsleben und seiner Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben einzuschätzen, ergibt sich sozialrechtlich wegen der unterschiedlichen leistungsrechtlichen Zuständigkeit der Rehabilitationsträger.

Bei Erfüllung der übrigen gesetzlichen Voraussetzungen ist im Fall der positiven Erwerbsprognoseeinschätzung die Rentenversicherung, im Fall der nicht positiven Erwerbsprognoseeinschätzung weiter die gesetzliche Krankenversicherung1) für die Rehabilitationsmaßnahme als Leistungsträger zuständig. Die Zuständigkeit der Unfallversicherung bleibt hiervon unberührt.

In der neurologischen Rehabilitation ist die Prognoseeinschätzung2) bei jedem Patienten eine rehabilitationsmedizinische Einzelfallbeurteilung auf komplexer Informationsgrundlage, die die im neurologischen Reha-Assessment gewonnenen Informationen auf dem Hintergrund der kurativmedizinischen Situation integriert und interpretiert.

Die Prognose kann nur von einem Arzt beurteilt werden, der eine mehrjährige rehabilitations- und sozialmedizinische Kompetenz und Erfahrung in der neurologischen Rehabilitation besitzt (siehe Abschnitt 1.2)3). Die Prognoseeinschätzung setzt immer eine Verlaufsbeobachtung unter rehabilitativer Intervention4) und ggf. mehrfache neurologische Reha-Assesssments voraus5).

Die Grundproblematik, eine individuelle prospektive Prognose aus einer retrospektiven Gruppenprognostik abzuleiten, ist bei schweren Hirnschädigungen im Vergleich zur Prognosestellung bei anderen Organerkrankungen unvergleichlich komplizierter. Die Vorhersage des Outcome wird dadurch kompliziert, daß eine Vielzahl von körperlichen, mental/kognitiven und psychischen Hirnleistungen durch eine Schädigung gestört werden kann und viele Faktoren den Verlauf beeinflussen. Da die Prognose immer auf eine Funktion, eine Leistung, eine Fähigkeit, ein Handicap bezogen ist, gibt es eine Vielzahl von möglichen Rückbildungsergebnissen (Outcome als Zielparameter).

Wegen der extremen Heterogenität der prämorbiden Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Heterogenität der neurobiologischen Schädigungsvariablen, der medizinischen Behandlungsmaßnahmen, der persönlichen und sozialen Ressourcen (social support) und wegen der unbekannten Interaktion dieser Faktoren gibt es keine einfache rechnerische Zusammenfassung (z. B. Addition von einzelnen Werten).

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1) Die Krankenversicherung erteilt der Rehabilitationseinrichtung eine vorläufige Kostenzusage für mindestens 4 Wochen, bis auf der Grundlage des neurologischen Reha-Assessments die Leistungsträgerschaft geklärt ist. (Siehe: Anwendungshinweis zur leistungsrechtlichen Zuordnung der Phase C vom 22. Juni 1998)

2) Es wird hier der Begriff „Prognoseeinschätzung“ gewählt, da zum Ausdruck gebracht werden soll, daß es sich um keine exakte „Berechnung“ der Prognose handelt.

3) Die Kompetenz und Erfahrung muß insbesondere auch in der Phase der Rehabilitation vorliegen, in der sich der zu beurteilende Patient gerade befindet.

4) Reagiert der Patient auf eine bestimmte therapeutische Intervention hin (therapeutisches Ansprechen), ist dies ein Hinweis auf das Vorliegen eines Reha-Potentials und das wichtigste positive Prognosekriterium.

5) Wegen der Instabilität cerebraler Leistungen, die für Funktionsstörungen insbesondere in der Frühphase nach einer Hirnschädigung charakteristisch ist, muß ein Reha-Assessment (ggf. in Teilen) wiederholt durchgeführt werden, da sonst u.U. phasisch (kurzandauernd) intakte Funktionen nicht erkannt werden. Wiederholte Untersuchungen sind andererseits erforderlich, um Leistungsverbesserungen als Indikatoren für einen Reha-Erfolg nachzuweisen.

 

3.2 Prognosefaktoren und Outcome-Parameter

Aufgrund der klinischen Erfahrung ist bekannt, daß bestimmte Parameter, wie z.B. das Alter oder der Schweregrad einer Hirnschädigung, einen größeren Einfluß auf die Rückbildung haben als andere. Um aber verläßliche Aussagen machen zu können, müssen

  1. die verschiedenen Wiederherstellungs-/Rückbildungsergebnisse (Outcome) definiert werden, die vorhergesagt werden sollen (Zielkategorien),
  2. die Zeitpunkte nach der Hirnschädigung angegeben werden, zu denen die Prognosefaktoren und der Outcome am besten erfaßt werden
  3. und valide Erhebungsverfahren verfügbar sein, welche die Faktoren erfassen, die den Outcome vorhersagen sollen (Prädiktorvariablen).

Grundsätzlich können zwei Klassen von Prognosefaktoren unterschieden werden. Unveränderliche Faktoren sind Faktoren, die sich nicht verändern, wie Alter (zum Zeitpunkt der Erkrankung, des Unfalls), Geschlecht, Vorerkrankungen, Ursache und Art der Schädigung, Ausbildungsniveau, prämorbider sozioökonomischer und beruflicher Status. Veränderliche Faktoren spiegeln die Veränderungen des Funktionszustandes des Gehirns (Rückbildungsdynamik von Funktionsstörungen) und die Auseinandersetzung (Kompensation, Adaptation, Coping) des Patienten und seines sozialen Umfelds (Angehörige, Arbeitgeber, u.a.) mit den Folgen einer Hirnschädigung wider und sind deshalb für eine positive Rehabilitationsprognose von besonderer Bedeutung.

Die veränderlichen Faktoren, die Zustandsänderungen des Patienten, können durch therapeutische Interventionen und fortlaufende Beobachtung und Aufzeichnung der besten und schlechtesten Reaktionen und durch technische Untersuchungen in den verschiedenen Stadien nach einer Hirnschädigung erfaßt werden.

Neben globalen Beobachtungsskalen, die eine Verhaltensbeschreibung ohne Erklärung der funktionellen Genese beinhalten, sind für eine differenzierte Prognosebeurteilung die Ergebnisse von detaillierten qualitativen Untersuchungen, die sich an den Funktionsprozessen orientieren, und, wenn möglich, quantitativen Meßverfahren insbesondere für kognitive Funktionen (z.B. Sprache, Sprechen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, etc.) erforderlich, die kontinuierlich sowohl die frühen Phasen der Rückbildung in der Frührehabilitation als auch die späteren Rehabilitationsphasen einschließlich der Wiedereingliederung ins Erwerbsleben abbilden.1)

Zu berücksichtigen ist insgesamt, daß die Prognosestellung verlaufsabhängig ist. Die Datenbasis, von der aus die Prognose zu stellen ist, und die Vorhersagekategorien ändern sich mit Verlauf und mit der Dauer der Hirnschädigung und ihrer Folgezustände.

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1) Die Instrumente für diese Untersuchungsbereiche müssen in Zukunft weiterhin entwickelt und erprobt werden. Verfahren, die in allen Phasen durchgängig eingesetzt werden können, stehen derzeit nur bedingt zur Verfügung.

Tabelle 3

Für die Prognosestellung wichtige Faktoren

Äußere Faktoren

– Reha-Management

– Bisheriger Rehabilitationsverlauf

– Angemessenheit

– Gesamtkoordination

– Einzelmaßnahmen

– Soziale Unterstützung (social support) Angehörige, Arbeitgeber, Gemeinde, Gesellschaft

 

Innere Faktoren

Unveränderliche Faktoren bei Eintritt der Erkrankung/des Ereignisses

Alter

– Geschlecht

– Biographische Situation

– Ursache der Schädigung, Grunderkrankung ereignishaft oder prozeß-, haft, Schwere der Grunderkrankung, Begleiterkrankungen, Art der Schä-del-/Hirnverletzungen, extrakranielle Verletzungen, Polytrauma, Dauer des Herz- oder Atemstillstandes, Dauer des Komas, Dauer der Hypoglykämie, Dauer der Hypoxie, Dauer der posttraumatischen Amnesie

– Ausbildungsniveau, sozioökonomischer und beruflicher Status

Veränderliche Faktoren

Reaktion des Patienten auf rehabilitative Intervention

– Dynamik im Rehabilitationsprozeß

– Krankheitsverarbeitung, Coping, Adaptation, neuer Lebensentwurf

3.3 Hinweise zur Prognoseeinschätzung

Das langfristige Ergebnis der Rehabilitation ist multifaktoriell bedingt, wobei die Faktoren sich im Verlauf hinsichtlich ihrer Bedeutung verändern. Für eine Prognoseeinschätzung können u.a. die nachstehenden Hinweise dienlich sein.

– Eine Prognosestellung sollte immer zielorientiert erfolgen, d.h. auf einen bestimmten Outcome, ein bestimmtes Ergebnis bezogen sein. Ziel/Outcome kann u.a. die Wiederherstellung einer bestimmten Funktion, Fähigkeit und der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sein.

– Die Prognoseeinschätzung ist ein kontinuierlicher Prozeß, der der Dynamik des Rehabilitationsprozesses folgt. Die Prognose selbst ist abhängig von der Verlaufsdynamik („Prognose unterwegs“). Treten über längere Zeit keine Verbesserungen auf, ist die Prognose eher als ungünstig einzustufen. Kommt es hingegen innerhalb kurzer Zeit zu großen Fortschritten, ist eher mit einem günstigen Ergebnis, z.B. hinsichtlich der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu rechnen. Dieselben Verbesserungen können u.U. nur langsam erreicht werden; die Prognose ist dann gleich gut, aber in einem anderen Zeitraum. Häufig wird gute Prognose fälschlicherweise mit schneller Zielerreichung gleichgesetzt. Ist die Dynamik hoch, muß die Prognose ggf. häufiger, ist sie niedrig, weniger häufig überprüft werden.

– Einer der wichtigsten Prognosefaktoren ist die Reaktion des Patienten auf ei-ne rehabilitative Intervention. Reagiert der Patient auf eine geeignete Maßnahme von angemessener Dauer, ist dies als Hinweis auf ein Rehabilitations-potential zu werten (Ansprechen auf Rehabilitationsmaßnahmen).

– Der Rehabilitationsprozeß verläuft nicht ausschließlich linear. An eine Plateau-phase kann sich eine erneute Phase der Leistungsverbesserung anschließen. Ferner gibt es fluktuierende Verläufe und Phasen von Leistungseinbrüchen und negative Entwicklungen (primär durch den zugrundeliegenden Krankheitsprozeß oder sekundär, z.B. durch eine reaktive Depression bedingt). Bei einem Schlaganfall (einmaliges Ereignis) ändert sich die Prognose, wenn ein zweiter Schlaganfall auftritt; bei einer Multiplen Sklerose (MS) ist die Dynamik des primären Krankheitsgeschehens mit entscheidend (ereignishafte Erkrankung versus prozeßhafte Erkrankung). Mit zunehmender Dauer des Verlaufs ohne positive Veränderung nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Besserung oder Wiederherstellung ab.

– Bei der Prognosestellung sollten der Zeitraum bis zum Eintritt der vorhergesagten Zustände, bis zum Erreichen der Verbesserung einer Funktion, Fähigkeit, etc. und die Voraussetzungen (z.B. durchzuführende Rehabilitationsmaßnahmen) angegeben werden, unter denen die Prognose gestellt wurde. Die Einschätzung der Prognose sollte immer mit dem Hinweis der Bedingungen versehen werden, unter denen sie abgegeben wurde.

– Das langfristige Reha-Ergebnis hängt wesentlich von der Konsequenz ab, mit der die Rehabilitationsplanung durchgeführt und umgesetzt wird (Behandlungsphasenübergreifendes Rehabilitationsmanagement)1).

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1) Gibt es eine konsequente Reha-Koordination, in der alle kurativ- und rehabilitationsmedizinischen Informationen gesammelt, integriert und die notwendigen Maßnahmen geplant, umgesetzt und kontrolliert werden? Wurde der Patient, der prognostisch zu beurteilen ist, kurativ- und rehabilitationsmedizinisch angemessen behandelt?

4. Neurologische Reha-Assessment-Checklisten1) A – C

Die im folgenden aufgeführten Reha-Assessment-Checklisten A bis C erfassen Bereiche, die im Rahmen des Reha-Assessments ausführlich zu berücksichtigen und im Reha-Assessment-Befundbericht gesondert zu dokumentieren sind. Die einzelnen Parameter der Checklisten sind nicht erschöpfend oder abschließend.

Wegen der extremen Heterogenität der prämorbiden Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Heterogenität der neurobiologischen Schädigungsvariablen, der medizinischen Behandlungsmaßnahmen, der persönlichen und sozialen Ressourcen (social support) und wegen der unbekannten Interaktion dieser Faktoren gibt es keine einfache rechnerische Zusammenfassung (z.B. Addition von einzelnen Werten).

1) Zu berücksichtigen ist, daß die Checklisten eine Schematisierung der wichtigsten Aspekte darstellen, die einzelnen Funktionen einen unterschiedlichen Komplexitätsgrad aufweisen, eine strikte Hierarchisierung nicht durchgängig möglich ist und daher Überlappungen vorkommen. Die Leerzeilen lassen Raum für Ergänzungen.