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V. "Chronische Schmerzen, im Sinne von Schmerzen, die keine Funktion haben, existieren nicht."28
Laut Liebscher und Bracht gibt es keine funktionslosen chronischen Schmerzen und auch kein Schmerzgedächtnis.29 Im Buch "Die Schmerzmedizin: Interdisziplinäre Diagnose- und Behandlungsstrategien"30 wird das Schmerzgedächtnis folgendermaßen definiert: "Schmerzgedächtnis: oft missverständlich verwendeter Begriff, um die langfristigen zentralnervösen, funktionellen und morphologischen Reaktionen auf starke oder wiederholte Schmerzreize zusammenzufassen". Wird der Körper verletzt, kommt es zu einer Entzündungsreaktion des Körpers. In der Regel entsteht dann eine Sensibilisierung von Nozizeptoren für die Dauer der hauptsächlichen Schmerzursache. Es kommt zu einer Hyperalgesie31 und Allodynie32, welche beide der Schutzbedürftigkeit des Gewebes Rechnung tragen (adaptive Reaktion). Zusätzlich kann es zu einer Sensibilisierung in Teilen des nozizeptiven Systems im Rückenmark und Gehirn kommen. Dadurch werden Schmerzreaktionen bei Reizen des geschädigten Areals weiter verstärkt (= Zentrale Sensibilisierung). Die Zentrale Sensibilisierung kann auch das Areal der Hyperalgesie vergrößern und gesundes, angrenzendes Gewebe miteinbeziehen. Die gesteigerte Schmerzempfindlichkeit im angrenzenden, gesunden Gebiet nennt man sekundäre Hyperalgesie. Die Zentrale Sensibilisierung kann so zu einem erhöhten Schutz des geschädigten Gewebes beitragen. Die Zentrale Sensibilisierung kann jedoch bestehen bleiben, auch wenn die primäre Schmerzursache bereits ausgeheilt ist. Die anhaltenden Sensibilisierungen stellen keinen sinnvollen Schmutzmechanismus mehr dar. Es kommt zu einer Chronifizierung der Erkrankung.33 Diese Prozesse sind dabei durch die Forschung gut validiert.34,35 Zerebrale Mechanismen, die zu einer Chronifizierung beitragen, sind zwar noch nicht ausreichend untersucht, jedoch gibt es schon diverse Studien, die zeigen, dass es zu einer Verschiebung der zentralen Schmerzrepräsentation vom lateralen ins mediale Schmerzsystem kommt.36,37 Das mediale Schmerzsystem ist dabei für die affektiv-emotionale Schmerzkomponente zuständig. Das laterale Schmerzsystem ist für die sensorisch-diskriminativen Aspekte der Schmerzempfindung (z.B. Schmerzintensität) zuständig.
Um diesen wichtigen Aspekt von Schmerz zu unterstreichen, hat die ISAP (International Association for the Study of Pain) eine neue Schmerzart definiert. Noziplastischer Schmerz ist ein Schmerz der durch eine veränderte Nozizeption entsteht, obwohl es keine klaren Hinweise auf eine aktuelle oder drohende Gewebsschädigung gibt, die eine Aktivierung von peripheren Nozizeptoren oder Hinweise auf eine Erkrankung/Läsion des somatosensorischen Systems, die den Schmerz verursachen, gibt.38,39
Eine weitere Komponente, die neben den biologischen Aspekten der Chronifizierung von Schmerzen eine Rolle spielen, sind psychologische und soziale Aspekte der Chronifizierung. In der Abbildung zur Chronifizierung sieht man sehr deutlich, dass die psychologischen und sozialen Aspekte, neben den schon oben besprochenen biologischen Aspekten, zu einer Chronifizierung von Schmerzen führen können.40
Liebscher und Bracht ignorieren einfach die bestehenden, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Chronifizierung von Schmerz. Wenn die Therapie von Liebscher und Bracht all diese Chronifizierungsfaktoren aufheben kann, dann wäre es doch ein Leichtes eine randomisierte, kontrollierte Studie bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen zu machen und die Wirksamkeit der Liebscher und Bracht Therapie unter Beweis zu stellen. Eins der größten medizinischen Probleme wäre gelöst!
VI. "Wie heißt es so schön? Wer heilt, hat Recht. Was meinen wir mit Heilen? Ganz einfach: Wir beseitigen den Schmerz und stoppen die Arthrose. Und wenn es noch möglich ist, bringen wir den Körper sogar dazu, den Knorpel Stück für Stück wieder aufzubauen und - sehr langfristig - auch Knochen wieder zu verändern."41
Die Plattitüde "Wer heilt ,hat Recht." wird gerne von Befürwortern alternativmedizinischer Therapieformen als Rechtfertigung dargelegt. Mit diesem Ausspruch wird häufig versucht, die durch Studien ermittelte Wirkungslosigkeit der Therapieform herunter zu spielen. Man sieht ja, dass die Therapie hilft! Deshalb braucht man auch keine Studien anzuerkennen, die Zweifel an der Therapie aufkommen lassen. Im Falle von Liebscher und Bracht gibt es wie immer keine Nachweise darüber, dass Schmerzen wirklich langfristig beseitigt werden, Knorpel wieder aufgebaut wird oder Knochen sich verändern. Des Weiteren muss man sich fragen, inwiefern der Einsatz einer Faszienrolle, Osteopressur und Dehnungsübungen strukturelle Effekte dieser Art hervorrufen können?42 Sind alle die regelmäßig Yoga und Stretching durchführen frei von Arthrose und Schmerzen?
VII. "Frische und pflanzliche Lebensmittel sollten den Löwenanteil Ihres Speiseplans ausmachen. Jeder Schritt in diese Richtung bringt Sie näher zur Schmerz- und Arthrosefreiheit."43
LuB halten die "richtige" Ernährung für einen wichtigen Faktor zur Reduktion von Schmerz und Arthrose. LuB empfehlen dazu eine vegetarische bzw. vegane Ernährung. Wie im gesamten Buch wird die Auswahl der Ernährungsform nicht weiter faktisch begründet. Betrachtet man evidenzbasierte Ernährungsempfehlungen, dann ergeben sich folgende Empfehlungen44:
- Reduktion des Übergewichts, am besten in Kombination mit einem Trainingsprogramm.
- Reduktion des Plasmacholesterinsspiegels durch Ernährung.
- Eventuelle Steigerung der Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren durch den Verzehr von Fisch (zweimal die Woche).
- Es sollte auf ein angemessenes Niveau der Sonneneinstrahlung zur Produktion von Vitamin D geachtet werden. Es besteht die Möglichkeit, Vitamin D als Nahrungsergänzung zu sich zu nehmen (= 25 µg/d).
- Ausreichende Zufuhr von Vitamin K durch grünes Gemüse.
Bemerkenswert ist, dass hier keine vegane/vegetarische Ernährungsform vorgeschlagen wird. Des Weiteren kommt der Reduktion von Übergewicht eine Hauptrolle bei der Behandlung der Arthrose zu. Dass Übergewicht eine Rolle bei der Entstehung und Verschlimmerung von Arthrose eine Rolle spielt, wird jedoch von Liebscher und Bracht verneint. Die Faktenlage spricht jedoch auch hier eine andere Sprache.45,46
VIII. "Gerade was die Schmerzen angeht, sind die nicht medikamentösen Therapien [PT, Osteopathie, etc.] meist relativ unwirksam und deswegen für viele Patienten frustrierend. Viele unserer Patienten sind völlig verblüfft, wenn ihre Schmerzen schon nach der ersten Behandlung mit unserer Akuttherapie Osteopressur massiv reduziert oder sogar ganz verschwunden sind." 47
Liebscher und Bracht haben Recht in der Annahme, dass ein Großteil der medikamentösen und konservativen Therapie für chronische Schmerzen nur geringe Effektstärken bzgl. Schmerzreduktion aufweisen.48,49,50,51 Diese Situation liefert natürlich einen Nährboden für Therapien, die ihr Marketing darauf ausrichten, gerade diese Situation zu lösen. Die Gesamtsituation zur Behandlung unspezifischer, chronischer Rückenschmerzen bzw. zu chronischen Schmerzen allgemein wird m.E. am besten von Maher et al. ausgedrückt:
"No treatments can cure persistent low back pain, but interventions are available that reduce pain and disability, and address the consequences of long-term pain [...]. Many patients and clinicians find this position hard to accept, which provides a fertile ground for people with vested interests to market non-evidence-based treatments that purport to cure persistent back pain. Part of the challenge of managing persistent low back pain is to guide patients away from the wide array of centres and therapists making false promises."52 So ist beispielsweise die Physiotherapie durchaus geeignet Patienten mit chronischen Schmerzen zu behandeln. Nur Wunder kann die Physiotherapie auch nicht verbringen. Des Weiteren sollte man sich fragen, inwieweit sich die Therapie wirklich von physiotherapeutischen Maßnahmen unterscheidet. Stretching, der Einsatz einer Faszienrolle und Weichteiltechniken sind lange Bestandteil der Physiotherapie. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen bei (chronischen) Schmerzen konnte jedoch bis jetzt nicht stichhaltig belegt werden.53,54,55
Fazit
Liebscher und Bracht haben keine eindeutigen Beweise für die Wirksamkeit Ihrer Therapie vorgebracht. Bei Liebscher und Bracht wird mehr auf die Vermarktung eines Produkts wert gelegt, als auf den Nachweis einer Wirksamkeit. Das geht zu Lasten der Patienten.
Tobias Saueressig
Der Autor ist Physiotherapeut und Diplom-Volkswirt in Wuppertal.
Kontaktdaten:
www.evidenzbasiertephysiotherapie.de
tobias@evidenzbasiertephysiotherapie.de
Lesen Sie hier den 1. Teil.
Quellennachweis:
(28) Bracht, Dr. med. Petra; Liebscher-Bracht, Roland, Schmerzfrei - Das Selbsthilfeprogramm für Ihren unteren Rücken, LNB Verlag; Auflage: 4 (30. November 2010), S. 41.
(29) Bracht, Dr. med. Petra; Liebscher-Bracht, Roland. Die Arthrose-Lüge: Warum die meisten Menschen völlig umsonst leiden - und was Sie dagegen tun können - Mit dem sensationellen Selbsthilfe-Programm - (German Edition) Goldmann Verlag. Kindle-Version. S. 39.
(30) Die Schmerzmedizin: Interdisziplinäre Diagnose- und Behandlungsstrategien (German Edition). Elsevier Health Sciences. Kindle-Version, Pos. 619.
(31) Als Hyperalgesie wird in der Medizin eine übermäßige Schmerzempfindlichkeit und Reaktion auf einen üblicherweise schmerzhaften Reiz hin bezeichnet, aber auch eine Schmerzreaktion gegenüber normalerweise nicht-schmerzhaften Reizen.
(32) Als Allodynie wird in der Medizin eine Schmerzempfindung bezeichnet, die durch Reize ausgelöst wird, welche üblicherweise keinen Schmerz verursachen.
(33) Sandkühler, Jürgen. "Neurobiologische Grundlagen des Schmerzgedächtnisses." psychoneuro 31.02 (2005): 77-80.
(34) Die Schmerzmedizin: Interdisziplinäre Diagnose- und Behandlungsstrategien (German Edition). Elsevier Health Sciences. Kindle-Version.
(35) Sandkühler, Jürgen. "Neurobiologische Grundlagen des Schmerzgedächtnisses." psychoneuro 31.02 (2005): 77-80.
(36) Baliki, Marwan N., et al. "Chronic pain and the emotional brain: specific brain activity associated with spontaneous fluctuations of intensity of chronic back pain." Journal of Neuroscience 26.47 (2006): 12165-12173.
(37) Hashmi, Javeria A., et al. "Shape shifting pain: chronification of back pain shifts brain representation from nociceptive to emotional circuits." Brain 136.9 (2013): 2751-2768.
(38) https://www.iasp-pain.org/PublicationsNews/NewsDetail.aspx?ItemNumber=6862&navItemNumber=643
(39) Kosek, Eva, et al. "Do we need a third mechanistic descriptor for chronic pain states?." Pain 157.7 (2016): 1382-1386.
(40) Die Schmerzmedizin: Interdisziplinäre Diagnose- und Behandlungsstrategien (German Edition). Elsevier Health Sciences. Kindle-Version.
(41) Bracht, Dr. med. Petra; Liebscher-Bracht, Roland. Die Arthrose-Lüge: Warum die meisten Menschen völlig umsonst leiden - und was Sie dagegen tun können - Mit dem sensationellen Selbsthilfe-Programm - (German Edition) Goldmann Verlag. Kindle-Version. S. 22.
(42) Lederman, Eyal. "The fall of the postural-structural-biomechanical model in manual and physical therapies: exemplified by lower back pain." Journal of bodywork and movement therapies 15.2 (2011): 131-138.
(43) Bracht, Dr. med. Petra; Liebscher-Bracht, Roland. Die Arthrose-Lüge: Warum die meisten Menschen völlig umsonst leiden - und was Sie dagegen tun können - Mit dem sensationellen Selbsthilfe-Programm - (German Edition) Goldmann Verlag. Kindle-Version. S. 130-131.
(44) Rayman, Margaret P. "Diet, nutrition and osteoarthritis." BMC Musculoskeletal Disorders 16.1 (2015): S7.
(45) Jiang, Liying, et al. "Body mass index and susceptibility to knee osteoarthritis: a systematic review and meta-analysis." Joint Bone Spine 79.3 (2012): 291-297.
(46) Afshin, Ashkan, et al. "Health effects of overweight and obesity in 195 countries over 25 years." The New England journal of medicine 377.1 (2017): 13-27.
(47) Bracht, Dr. med. Petra; Liebscher-Bracht, Roland. Die Arthrose-Lüge: Warum die meisten Menschen völlig umsonst leiden - und was Sie dagegen tun können - Mit dem sensationellen Selbsthilfe-Programm - (German Edition) Goldmann Verlag. Kindle-Version. S. 97.
(48) Cheung, Chi Wai, et al. "Chronic opioid therapy for chronic non-cancer pain: a review and comparison of treatment guidelines." Pain Physician 17.5 (2014): 401-414.
(49) Geneen, Louise J., et al. "Physical activity and exercise for chronic pain in adults: an overview of Cochrane Reviews." The Cochrane database of systematic reviews (2017).
(50) Machado, L. A. C., et al. "Analgesic effects of treatments for non-specific low back pain: a meta-analysis of placebo-controlled randomized trials." Rheumatology 48.5 (2008): 520-527.
(51) Machado, Gustavo C., et al. "Efficacy and safety of paracetamol for spinal pain and osteoarthritis: systematic review and meta-analysis of randomised placebo controlled trials." bmj 350 (2015): h1225.
(52) Maher, Chris, Martin Underwood, and Rachelle Buchbinder. "Non-specific low back pain." The Lancet 389.10070 (2017): 736-747. Eigene Übersetzung: "Keine Behandlung kann persistierende untere Rückenschmerzen heilen, es gibt aber Interventionen die Schmerzen und Einschränkungen reduzieren und die Konsequenzen von länger andauernden Schmerzen berücksichtigen. […] Viele Patienten und Kliniker finden diese Position schwer zu akzeptieren, was einen fruchtbaren Grund für Menschen mit einem starkem persönlichen Interesse zum Angebot von nicht-evidenzbasierten Behandlungen führt, die angeblich Rückenschmerzen heilen sollen. Ein Teil der Herausforderung des Managements von persistierenden, untereren Rückenschmerzen ist es, die Patienten von den verschiedenen Zentren und Therapeuten fernzuhalten, die falsche Versprechungen machen."
(53) https://evidenzbasiertephysiotherapie.de/die-faszienrolle-ein-hype/
(54) https://evidenzbasiertephysiotherapie.de/faszientherapie-sinnvoll-oder-nicht/
(55) https://evidenzbasiertephysiotherapie.de/triggerpunkte-eine-haltbare-theorie/
GastbeitragLiebscher und Bracht
Mit den Studien, - da wissen wir ja alle, ist das so eine Sache. Da hat sich die sogenannte Schulmedizin, zu der ich mich demütig als Physio zähle, nicht gerade mit Ruhm bekleckert, so das ich mich gut beraten fühle die Kräuter der Hexe erst selbst zu prüfen, bevor ich ihrer Vetbrennung zustimme und weiterhin meinen Aderlass vornehme.
Also Hand aufs Herz. Wer hat die Ausbildung persönlich durchlaufen ?
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stefan 302 schrieb:
wie ich schon geschrieben habe : ICH
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Problem beschreiben
jürgen63 schrieb:
Mich würde interessieren, ob denn die Beiträge hier aufgrund theoretischer, also Literaturstudien erfolgen, oder ob sich jemand in die Höhle des Löwen gewagt hat um sich vor Ort unabhängige und praktische Erkenntnisse zu besorgen.
Mit den Studien, - da wissen wir ja alle, ist das so eine Sache. Da hat sich die sogenannte Schulmedizin, zu der ich mich demütig als Physio zähle, nicht gerade mit Ruhm bekleckert, so das ich mich gut beraten fühle die Kräuter der Hexe erst selbst zu prüfen, bevor ich ihrer Vetbrennung zustimme und weiterhin meinen Aderlass vornehme.
Also Hand aufs Herz. Wer hat die Ausbildung persönlich durchlaufen ?
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