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MedizinerInnen und Heilmittelerbringer sind geschult darin, Abweichungen von der „Norm“ einen Namen zu geben. Wie im Supermarkt erhält jede(r) PatientIn ein Etikett, an dem sich ablesen lässt, welche Pathologie der Mensch aufweist. Hinter diesem Label verstecken sich gewöhnlich seitenweise Fachwissen und der jeweilige Erfahrungsschatz des Praktizierenden. Es legt einen Behandlungsrahmen fest und gibt Aufschluss über die Prognose und die Behandlungsmöglichkeiten. Eine Behandlung im Rahmen des Gesundheitssystems wird tatsächlich erst möglich, sobald ein diagnostisches Label gesetzt wurde. Auf den ersten Blick scheint ein Label also einen sehr praktischen Nutzen zu haben. Doch es gibt auch Argumente gegen das Etikettieren von Diagnosen.
Die Schattenseiten eines diagnostischen Labels
Ein Label impliziert, dass ein konkreter (Gewebe)schaden vorliegt. Insbesondere in der muskuloskelettalen Medizin ist das aber nicht immer der Fall. Beziehungsweise ist es durch die derzeitig verfügbaren diagnostischen Werkzeuge nicht möglich eine klare Ursache für Schmerzen auszumachen. In Anbetracht der derzeitigen Evidenz über die Therapieoptionen von unspezifischen Schmerzsyndromen ist eine Ursachenfindung ohnehin erst einmal eher irrelevant. Praktizierende sollten sich nicht unwohl dabei fühlen, eine Pathologie als unspezifischen Rückenschmerz oder ein patellofemorales Schmerzsyndrom zu bezeichnen.
Mechanische Label, wie ein „gerissener Meniskus“ oder eine „Bandscheibendegeneration“ implizieren das Bild eines fragilen Körpers und führen zu ausgeprägten Angst-Vermeidungs-Verhalten und Schmerzkatastrophisierung. Auch seitens des medizinischen Fachpersonals sorgen mechanische Label zu einer Fehl- beziehungsweise Überbehandlung. Immer noch werden im MRT entdeckte Meniskusrisse sofort operiert, obwohl ein evidenzbasiertes Vorgehen zunächst eine Trainingstherapie beinhalten sollte.
Sollten Kliniker Label benutzen?
Bei akuten, traumatischen Ereignissen sind diagnostische Label absolut sinnvoll. Da Entstehungsmechanismus, sowie die verletzte Struktur meist klar zu definieren sind, ergeben sich unmittelbare Behandlungskonsequenzen aus dem Befund. Diesen Befund dem Patienten oder der Patientin zu verwehren, um eventuell entstehende Ängste zu vermeiden, ist bevormundend und ethisch nicht zu verantworten. Allerdings sollte auch in diesem Fall auf die Wortwahl geachtet werden. Eine Patientenbefragung aus dem Jahr 2011 zeigt, dass sich die Erwartungshaltung über den Heilungsverlauf erheblich verändert, je nachdem ob ein Arzt von einem gebrochenen Knochen, einem Riss im Knochen, einer Fraktur oder einem Haar-Riss im Knochen spricht.
Fünf Fragen
Fünf Fragen können MedizinerInnen, aber auch Heilmittelerbringende dabei helfen zu entscheiden, ob ein diagnostisches Label sinnvoll ist:
1. Handelt es sich um ein akutes oder ein chronisches Problem?
2. Kann es sein, dass die Beschreibung einer klaren Struktur oder Gewebspathologie dem Menschen nicht beim Verständnis der Symptomatik weiterhilft?
3. Wenn ich ein Label benutze, führt dies in Zukunft eventuell zu mehr Kosten oder potenziell gefährlichen Behandlungsoptionen, beispielsweise unnötigen Operationen?
4. Hilft oder hindert das Label bei der Heilung?
5. Wer profitiert von den gesprochenen Worten?
Strategisch Labeln
Die Frage ist also nicht ob, sondern wie wir in Zukunft labeln sollten. Daniel Jonah Friedman, Louise Tulloh und Karim M Khan schlagen im Leitartikel der Maiausgabe des British Journal of Sports Medicine folgende Strategien vor:
1. Nutzen Sie unspezifische Diagnosen. Da die meisten evidenzbasierten Behandlungsoptionen muskuloskelettaler Beschwerden letztendlich auf ein biopsychosoziales Belastungsmanagement hinauslaufen, ist es weder notwendig noch förderlich eine klare Ursache zu benennen. Viel mehr kann eine unspezifische Diagnose dabei helfen, das Verständnis für die Komplexität muskuloskelettaler Beschwerden zu fördern und ein gesundheitsorientiertes Behandlungskonzept zu etablieren. Für Menschen öffnet das Label eines Schulter-Arm-Syndroms die Tür zu einer aktiven Therapie. Eine Rotatorenmanschettenruptur wird hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst ein Hemmnis für Belastung darstellen.
2. Entfernen Sie diagnostische Label: Wenn Red Flags klar ausgeschlossen werden können und ein therapeutischer Nutzen eines Labels nicht (mehr) ersichtlich ist, können wir das Etikett entweder gar nicht erst auf den Patienten kleben oder über ein Gespräch versuchen den Menschen zu vermitteln, warum das bisher gesetzte Label eher ungünstig für die kommende Therapieplanung ist.*
3. Wenn Aufgrund der Bürokratie ein diagnostisches Label notwendig ist (beispielsweise auf einer Verordnung), sollte klargestellt werden, was dieses Label bedeutet und was es nicht bedeutet. Experten sollten erklären, wie groß die Prävalenz in der Altersgruppe der PatientInnen ist und eventuelle negativen Überzeugung, die mit der Diagnose einhergehen adressieren und gegebenenfalls widerlegen.
4. Worte können weh tun. Ein Wort wie Verschleiß klingt unwiederbringlich kaputt. Gewebe kann auch als überlastet, sensibilisiert oder irritiert beschrieben werden. Dies impliziert, dass selbstwirksam an der Lösung gearbeitet werden kann.
Zu guter Letzt
Wer sich für das Thema der Überbehandlung interessiert und nach Ratschlägen sucht, dieser entgegenzuwirken, findet auf der Seite von Choosing Wisely (leider nur englische) Literatur. Das deutsche Pendant „Klug Entscheiden“ enthält bisher leider nur Empfehlungen für die internistischen Therapie.
Daniel Bombien / physio.de
*Ergänzung des Autors:
Auch wenn in Deutschland ÄrztInnen für die Diagnosestellung verantwortlich sind, sind TherapeutInnen hiervon nicht ausgenommen. Hin und wieder geben erst PhysiotherapeutInnen dem Kind in der Praxis einen Namen. Obwohl eventuell auf der Verordnung zunächst eine unspezifische Diagnose vorhanden ist.
SpracheHeilungTherapiePsychologie
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Michael Schiewack schrieb:
Sehr guter Beitrag. Durchaus ein ethische Betrachtung, welcher noch ausgiebiger diskutiert werden sollte.
Danke
Ganz wichtige Thematik, gehört unbedingt aufzunehmen in die Lehrpläne der PT-Schulen und Fortbildungen...
Eva
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Eva D. schrieb:
Danke!
Ganz wichtige Thematik, gehört unbedingt aufzunehmen in die Lehrpläne der PT-Schulen und Fortbildungen...
Eva
so what
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mbone schrieb:
Dieses scheinbar ganz andere Denken hab ich so schon in den 90 er Jahren bei meinen Maitland Kursen kennengelernt……und Jahre später bei Typaldos (auch aus den 90 ern) wieder gefunden…..
so what
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